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Karin Geiger Garage Sales

Karin Geiger: 633-D3, Los Angeles, 1998

Curb Appeal: Garage Sale Serie von Karin Geiger

Über den Zeitraum 1998/99 hat Karin Geiger garage sales (= Garagenverkäufe) in verschiedenen Teilen von Los Angeles fotografisch extensiv dokumentiert. Die Nummer im Titel jeder Fotografie verweist auf die entsprechende Referenz im Thomas GuideÜ, dem Stadtplan, der unverzichtbar ist, um sich in dieser suburban geprägten Metropole zurechtzufinden. Garage oder auch yard sales gehören heute an jedem Wochenende zum Stadtbild von Los Angeles, immer Samstag morgens bringen sie Leben in ansonsten verschlafene Wohnstraßen. Obwohl sie nominell dazu dienen, ausgemusterte Konsumgüter an den Mann zu bringen, die sich in den Garagen der Besitzer angehäuft haben, wäre es verkehrt, sie als rein kommerzielle Veranstaltungen zu sehen; vielmehr stellen sie so etwas wie Events in der Nachbarschaft dar und bieten den Leuten Gelegenheit zu individuell gestalteten Präsentationen . Auf diesen Aspekt der Zurschaustellung richtet Karin Geiger ihr besonderes Augenmerk. Auf den Fotografien sind keine Menschen zu sehen: bloß die zum Verkauf bestimmten Gegenstände, die auf Rasenflächen, Garagenauffahrten oder Bürgersteigen ausgebreitet sind, vor dem Hintergrund des jeweiligen Hauses oder Apartmentgebäudes. Man erblickt den garage sale als sorgfältige Assemblage von Objekten, als Tableau am frühen Morgen, das im Vorüberfahren zu bewundern ist, bevor die Ankunft von Kaufinteressenten diese Ordnung zerstört.

Im Straßenbild von Los Angeles kommt ostentativer Zurschaustellung eine wichtige Rolle zu. Die Häuser zeigen unterschiedlichste architektonische Stiformen, wobei unter der Fassade ihre Bauweise im Wesentlichen identisch ist. Tudorhäuser stehen friedlich neben solchen im spanischen oder modernen Stil. Ebenso vielfältig ist die Gestaltung der Vorgärten vor den Häusern, da im hiesigen Klima fast alles gedeiht, eine ausreichende Bewässerung vorausgesetzt; neben einem tropischen Dschungel findet sich eine Kakteenlandschaft oder auch ein traditoneller Englischer Rasen. Was zählt, ist der Eindruck, den man im Vorbeifahren vom Auto aus erhält: der so genannte "curb appeal" (etwa: Wirkung vom Bordstein aus), um ein Lieblingsschlagwort aus der Immobilienbranche zu benutzen, die an kaum einem Ort so glänzend floriert wie in Los Angeles. Architektur und Gartengestaltung bilden eine sorgsam abgestimmte Komposition, die den Reiz der Immobilie, wie man sie vom Auto aus sieht, erhöhen sollen. Eine Autofahrt durch Los Angeles ist durchaus mit einem Schaufensterbummel zu vergleichen.

Geiger dokumentiert genau diesen Blickwinkel von der Straße aus, aber in ihren Fotografien tritt das temporäre Ereignis der garage sales zwischen die Kamera und ihr gewohntes Objekt. Architektur und Vorgarten sind immer noch präsent, nehmen aber einen sekundären Rang ein. Stattdessen wird der Blick auf ein temporäres Arrangement gelenkt, auf den bunten Einfallsreichtum, den die Menschen hier darauf verwenden, ihren Besitz an den Mann zu bringen.

Karin Geiger Garage Sales

Karin Geiger: 593-C7, Los Angeles, 1998

Der garage sale ist eine kommerzielle Veranstaltung, die im Umfeld einer Wohnstraße stattfindet, insofern auf subtile Weise subversiv. Schließlich ist Los Angeles gemäß eines strikten zoning code geplant, mit dem Ziel einer säuberlichen Trennung von gewerblich genutzten Flächen und Wohngebieten. Die durch den zoning code geschaffene rigide Struktur erfährt jedoch eine gewisse Milderung durch "die konkrete Vielfalt einer realistischen dinglichen Ordnung"  (1). In vielen Wohngebieten ist es beispielsweise mittlerweile normal, von zuhause aus zu arbeiten, und man hat das Zonenreglement kürzlich modifiziert, um etwas zu gestatten, das längst Realität ist. Ebenso wird das Phänomen des garage sale toleriert, vorausgesetzt, er findet nicht zu häufig statt. Um mit de Certeaus Terminologie zu sprechen, er ist ein Beispiel für die Taktiken des Nutzers, eine oktroyierte abstrakte Orndungsstrategie zu unterlaufen, in diesem Fall die Zoneneinteilung. (2) Die vorgeschriebene, aber nur selten genutzte Fläche, die das Haus von der Straße zu trennen hat, wird von kreativen Nutzern zu einer Art horizontaler Werbefläche umfunktioniert.

Ist der garage sale Teil einer graduellen Transformation von "alltäglichem Raum" in Los Angeles? Die Architektur- und Städtebautheoretikerin Margaret Crawford hat diese Frage kürzlich aufgeworfen. (3) Crawford führt in dem Zusammenhang vor allem Beispiele von garage sales an, die zu einer Art Dauereinrichtung avanciert sind, wobei diese Beispiele sich im Allgemeinen allerdings auf die ärmsten Stadtteile beschränken.
In wohlhabenderen Bezirken, wo für die Besitzer der Marktwert ihrer Immobilie auf dem Spiel steht, scheint es weniger wahrscheinlich, dass eine solch dauerhafte Transformation stattfindet: ein gelegentlicher garage sale ist gestattet, als vorübergehende Aufhebung des Normalzustandes. In manchen Vierteln muss der Hausbesitzer eine städtische Genehmigung beantragen und sich auf zwei Verkäufe pro Jahr beschränken. Als Ausnahmefall vom Alltag weist der garage sale eine gewisse Ähnlichkeit zum Fest auf, das, nach Lefebvres Definition,  "vom Alltagsleben stark" abweicht, ohne "von ihm separiert" zu sein.

Was Geigers Fotografien jedoch so faszinierend macht, geht weit über die temporäre Verwischung der Grenzen zwischen gewerblichen Flächen und Wohnflächen hinaus. Sie schildern eine temporäre Transformation oder Umkehrung normaler, alltäglicher Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen. Jede Fotografie bildet die in suburbanen Räumen übliche Defensivstruktur ab, wie sie sich von der Straße aus darstellt - Bürgersteig, Zaun, Vorgarten, Auffahrt, Garage und Haus -, und wie diese durch die Zurschaustellung von Objekten transformiert wird, die sonst den Blicken der Öffentlichkeit verborgen sind. Wiewohl einem bewusst ist, dass diese Objekte - außer bei echten Wohnungsauflösungsverkäufen - nicht zur tatsächlichen Ausstattung des Hauses gehören, vermitteln die Fotografien dennoch den Eindruck, der garage sale sei eine Art Zurschaustellung des Privatlebens der Hausbewohner. Es beschleicht einen das Gefühl, Gegenstände zu sehen, die das Haus eigentlich vor den Blicken der Öffentlichkeit schützen sollte. Diese Verkehrung der üblichen Ordnung - mit oft surrealer Wirkung - kommt in Geigers Fotografien stark zum Ausdruck.

Den Bewohnern von Los Angeles sind garage sales so vertraut, dass sie dieses Phänomen womöglich als etwas ganz Selbstverständliches wahrnehmen; Geigers eher distanzierter Blick eröffnet uns die bizarren und ästhetisch ansprechenden Aspekte des garage sale. Außerdem wird dem Betrachter vor Augen geführt, wie komplex das Alltagsleben in Los Angeles tatsächlich ist, konträr zu den verbreiteten Klischees über das Leben in den Vorstädten.

(1) Claude Levi-Strauss, "Pioneer Zone" in Tristes Tropiques (London, 1974)

(2) Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life (Berkeley and Los Angeles: University of California Press, 1988)

(3) Margaret Crawford, "Blurring the Boundaries: Public Space and Private Life" in John Chase, Margaret Crawford und John Kaliski, ed., Everyday Urbanism (New York: Monacelli Press 1999), 22-35

(4) Henri Lefebvre, Critique of Everyday Life (New York: Verso, 1991),
zitiert in Mary McLeod, "Henri Lefebvre's Critique of Everyday Life: An Introduction", in Steven Harris und Deborah Burke, ed., Architecture of the Everyday (New York: Princeton Architectural Press, 1997), 16.